Das Heinze System
„Das Problem im Fernsehen ist nicht, was gezeigt wird, sondern was alles nicht gezeigt wird.“
Andreas Schreitmüller, ARTE
„Bis gestern habe ich nicht gewusst, dass ich Spiele drauf hab!“
Einige Notizen zum Kollektivfilm „Dazu den Satan zwingen“ von Ulrich Kriest
Immer diese Echo-Effekte! Am Rande der Veranstaltung „Es funktioniert! – Debatte über die Qualität im deutschen Film“, die 2015 in der Berliner Akademie der Künste abgehalten wurde, resümierte ein Gast, er habe das, was hier gerade vorgetragen wurde, bereits 1993 auf einer ähnlichen Veranstaltung mit annähernd denselben Worten verhandelt gehört. Er erntet zustimmendes Gelächter[1]. Eine andere Referentin auf derselben Veranstaltung erinnerte daran, dass der kommerzielle Erfolg von Sönke Wortmanns „Der bewegte Mann“ (1994) zu einer Hausse in Sachen Drei-Akt-Dramaturgie, Script-Consulting und Businessplänen geführt habe. Deren Wirkung bringt Jahrzehnte später Jutta Brückner auf den Punkt: „Die unheimliche Unmündigkeit des Zuschauers bildet sich ab im flachen Terrain des psychologischen Erzählkinos mit seinem Verismus.“
1997 veröffentlichte der in Hamburg lebende Musiker Knarf Rellöm sein Album „Bitte vor
R.E.M. einordnen“ auf Alfred Hilsbergs „What’s So Funny About“-Label[2].
„Bitte vor R.E.M. einordnen“ war eine mutige, poly-stilistische Offenbarung, ein Bündel
voller Pop-Referenzen zwischen The Buggles und E.L.O., zwischen Dylan und Dexys. Der elfte
Song auf diesem Album war ein etwas lärmiger, auf der Stelle tretender Blues-Rock mit dem
schönen Titel „Ihr seid immer nur dagegen, macht doch mal bessere Vorschläge“, womit denn
auch schon der Text dieses Songs formuliert wäre, gäbe es nicht als Refrain gewissermaßen
einen Chor, der auf die Aufforderung schlicht, aber stetig „Nö!“ antwortet. Diskurs-Pop,
made in Hamburg: darf man etwas nur dann kritisieren, wenn man im Gegenzug gleich
etwas »Konstruktives«, „bessere Vorschläge“ einbringen kann, in die Diskussion? Nö!
Rellöm verweigerte sich dieser Strategie einer Immunisierung gegen Kritik aus guten Gründen.
Was aber, wenn man nicht nur über »bessere Vorschläge« verfügt, sondern diese
sogar in Form einer vielleicht nicht generell besseren, aber zumindest einer alternativen
Praxis in Form eines Produkts vorlegen kann? Etwa in Form eines Films mit dem Titel „Dazu den Satan
Zwingen“[3].
„Offensiv
Experimentell“ lautet der Name einer Initiative des Studienschwerpunkts Film an der
HFBK Hamburg[4]. Im Dezember 2013
fand ein zweitägiges Treffen in der HFBK statt, um sich kritisch und konstruktiv über die
seit Jahren verheerenden Produktionsbedingungen der Film- und Fernsehlandschaft in
Deutschland auszutauschen und über Alternativen und/oder Verbesserung der Rahmenbedingungen
zu verständigen. Es gab eine Reihe von Grundsatzreferaten und vielerlei Diskussionen, die
zum Teil auch filmisch dokumentiert wurden und somit als diskursives Material für den Film
„Dazu den Satan zwingen“ produktiv gemacht werden konnte. „Offensiv experimentell“
inventarisierte die eingeölten Mechanismen, die zu einer fast alternativlosen Film- und
Fernsehlandschaft geführt haben, in der wie am Fließband immer gleiche Konsensfilme
produziert werden, deren Quotenerfolge die Zurichtung der Seh-Erwartungen der Zuschauer
dokumentieren und Produktion von alternativen Risikoproduktionen verhindern[5]. Als zensurierende
Faktoren fungieren dabei die Schriftform (Anträge, Drehbücher etc.) und die Formatierung der
Programmplätze. Für sich selbst funktioniert das System prächtig und frei von
Legitimationsdruck („Kulturauftrag“); Hilfe scheint nur noch von Außen denkbar und möglich.
Gefordert ist dabei auch eine systemtheoretisch unterfütterte Institutionenkritik, deren
Subtext hier auf den Namen Doris J. Heinze bzw. „Marie Funder“ hört. Das „System Heinze“[6] ist eine höchst
aufschlussreiche Mischung aus Korruption, Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft,
Selbstüberschätzung und intellektuell-ästhetischer Hybris, die gewiss nicht nur beim NDR
vorzufinden ist. Es geht dabei (auch) um künstlerische Ambitionen, gepaart mit einer
institutionellen Macht-Position, um sie, wenngleich (noch) unter Pseudonym, auszuleben und
auch realisieren zu können. „Es ist ein bisschen wie bei Milli Vanilli. Man bewegt die
Lippen und hört Musik. Irgendwann glaubt man, dass man singt“, beschreibt Christoph
Hochhäusler in „Dazu den Satan Zwingen“ die Crux möglicherweise mehrfach begabter
Fernsehredakteure, die die Nähe zur Kunst auf »künstlerische« Abwege führt.
Eine andere Metapher (neben dem „System Heinze“) dafür, wogegen sich die Initiative
„Offensiv Experimentell“ richtet, ist der retro-realististische Canyon[7].
Ein tiefer Einschnitt in der aktuellen Film- und Fernsehlandschaft, geschaffen durch eine
spezifische Produktions- und Förderlogik und von den Füßen derer, die dieser Produktions-
und Förderlogik gefolgt sind. Es ist ein tiefer Canyon, der keine Seitenausgänge hat, der
keinen Blick mehr auf die Wirklichkeit erlaubt und der vor allem den Blick auf das Feld der
Möglichkeiten aus den Augen und Ohren verloren hat. Retro-Realismus, so heißt es an einer
Stelle im Film, ist eine Schwundform der Fiktion, die einer Dramaturgie folgt, nach der man
buchstäblich die Uhr stellen kann. Weil vom Fernsehformat „Tatort“ hier noch die Rede sein wird, sei nur daran erinnert, dass es
unter „Tatort“-Aficionados gängige Münze ist, dass derjenige, der vor 21.30 Uhr noch als
Hauptverdächtiger gelten muss, sich ganz sicher nicht als Täter erweisen wird. Die Lage ist
also nicht nur ernst, sondern auch stabil, weil seit Jahrzehnten bestens eingespielt. Kann
man Bewegung ins Spiel bringen, indem man die »Achillesferse« des Systems
offenlegt? Kann man Dynamik durch Verhandlungen erzeugen? Früh heißt es in „Dazu den Satan
Zwingen“: „Wir müssen einen Botschafter finden, den wir in den Canyon schicken können, um zu
verhandeln!“
Um im Bild zu bleiben: es handelt sich um einen Botschafter, der aus dem dünn besiedelten Feld der Möglichkeiten stammt, von dem die Bewohner des Canyons vielleicht gerade noch ahnen, dass es das geben könnte. Dietrich Kuhlbrodt ist sicherlich die Idealbesetzung für diese Rolle des Botschafters, dessen erste Aktion darin besteht, eine weitere Zahlung der Rundfunkbeiträge zu verweigern. Was heute Rundfunkbeitrag heißt, hieß früher einmal Rundfunkgebühr. Als ausgebildeter Jurist, der seit 1965 bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg beschäftigt war und seit 1968 als Staatsanwalt in Hamburg, hat er schon in trüberen Gewässern gefischt. Seit 1957 publiziert Kuhlbrodt an prominenten Orten Filmkritiken, ist also auch mit der Rede über Filme vertraut. Zugleich hat er als Schauspieler mit Vlado Kristl, Christoph Schlingensief und Lars von Trier gedreht, hat folglich hinreichend Erfahrungen im Feld der Möglichkeiten gesammelt. Aktuell ist er auch als Opa 16 Teil des subversiven Künstler- und Musiker-Kollektivs HGich.T. Kuhlbrodt, der in „Dazu den Satan Zwingen“ einmal davon spricht, dass es von zentraler Bedeutung sei, über verschiedene Identitäten zu verfügen, dient dem Film als Medium, Zeitzeuge, Schauspieler, Experte und schließlich auch als leicht überforderter Gewährsmann dafür, dass es einen anderen, „vernünftigen“ „Tatort“ geben könne. Als Anwohner schwärmt er zudem noch von »seinem« Hamburg, fernab von Elbphilharmonie und Tourismus und kann vor Ort daran arbeiten, die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation durchlässig zu machen. Handelt es sich bei „Dazu den Satan Zwingen“ also einerseits auch um ein vielschichtiges „operatives Portrait“ des Dietrich Kuhlbrodt, so soll der Film gleichsam auch das „Portrait einer Operation“ (Untertitel) sein, die in mehrfacher Hinsicht, in Theorie und Praxis eine filmpolitische und filmästhetische Intervention und Reflexion. Das klingt anspruchsvoll und sperrig, ist aber in seiner Vielschichtigkeit und in der Vielfalt der erzählerischen Mittel höchst unterhaltsam und dem Zuschauer augenzwinkernd zugewandt. „Dazu den Satan Zwingen“ mischt Fiktives, Experimentelles und Dokumentarisches, ist Polit-Thriller und Gerichtsfilm, Animations-, Musik- und Porträtfilm, ein Making-Of einer etwas anderen „Tatort“-Folge und schließlich auch noch ein Making-Of seiner selbst. Er ist Ausdruck des Wunsches nach einer „Bildwende“ und zugleich der um Ideen nicht verlegener Prototyp von dessen Einlösung[8].
Bevor nun die Bäume der Utopie „Bildwende“ in den Himmel schießen, sei darauf hingewiesen,
dass es „Dazu den Satan Zwingen“ bei allem „Elan vital“, aller Kreativität und allem Witz
durchaus nicht an Realismus mangelt. Das „System Heinze“ hat sich flexibel gezeigt. Es hat
sich verjüngt und gleichzeitig die Pensionsansprüche angehoben. Es gibt sie ja, die
Zuschauer, die sich mit Formaten wie „Rund um den Michel“ bestens bedient fühlen. Die sich
nichts Besseres vorzustellen wissen. Hier keine radikale Veränderung zu fordern, entspringt,
so Robert Bramkamp, einem Ethos der Pflege. Wem wäre damit gedient, die Ü60-Zuschauer mit
innovativen Realitätsvorstellungen ihrem Leben zu entfremden? Allerdings gelte: „Es käme
billiger, mehr alte Filme zu wiederholen als sich immer wieder neu zu wiederholen!“ Die
Entscheidung, auf Qualität statt auf Quote zu setzen erfordert Mut, weil mit Scheitern und
Misserfolgen zu rechnen ist. Als Regisseur Kuhlbrodt während der „Tatort“-Dreharbeiten
überfordert scheint, überlegen „langjährige Bewohner des Canyons“ vorauseilend, ob es nicht
besser wäre, das Experiment abzubrechen und zum Konventionellen zurückzukehren – solange das
Budget es gestatte. Wenn Botschafter Kuhlbrodt schließlich vor Gericht obsiegt, gratuliert
ihm die Vorsitzende Richterin mit dem Hinweis auf die nächste Instanz und der Einschätzung,
sie habe sich mit ihrem überraschenden Urteil vielleicht etwas zu weit aus dem Fenster
gelehnt. Mit Rückschlägen ist folglich immer zu rechnen. Aber die Zeit drängt, denn „Retro-Realismus“[9] ist auch
Gewöhnungssache. Das letzte Wort haben diesmal noch Die Sterne: „Ich hab gedacht, ich hätte
jemand getroffen, der verantwortlich wär und ich hätte gefragt: »Was ist denn nun mit
meiner Generation?«und der hätte gesagt: »Pech gehabt!«. »Ihr seid ja nun mal
wirklich viel zu spät, jetzt weiß ich nicht, ob überhaupt noch was geht. Jetzt stellt euch
alle einfach mal hinten an, ich geh nach vorn und sehe nach, ob ich was machen kann.«[10]
Weiterführende Links
Dieser Text illustriert in Lerchenfeld 39 (S. 41 ff.) als pdf hier: http://www.hfbk-hamburg.de
Einzelnachweise
- ↑ Vieles von dem, was hier verhandelt wird, findet sich
auch schon in:
Alexander Kluge (Hrsg.): Bestandsaufnahme: Utopie Film. Frankfurt a.M. 1983. Überhaupt nehmen die späten Kinofilme und frühen Fernseharbeiten Kluges allerlei Überlegungen vorweg, die im Rahmen von „Offensiv experimentell!“ wieder aufgegriffen werden. Weiterlesen könnte man auch hier: Jacques Ranciere: Und das Kino geht weiter. Schriften zum Film. Berlin 2012. - ↑ Ladies Love Knarf Rellöm: Bitte vor R.E.M. einordnen (WSFA, 1997)
- ↑ Zum Filmtitel vgl. Johann Rist (1607-1667), Ermuntere
dich, mein schwacher Geist, 7. Strophe:
Brich an, du schönes Morgenlicht, Und lass den Himmel tagen;
Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, Weil dir die Engel sagen,
Dass dieses schwache Knäbelein Soll unser Trost und Freude sein,
Dazu den Satan zwingen Und letztlich Friede bringen. - ↑ Vgl. http://www.hfbk-hamburg.de/projekte/index.php/hfbk_projekte/projekt_view/10622. Alle Vorträge und kurze Filme über Propaganda finden sich auf http://www.realeyz.de
- ↑ Ergänzt und unterfüttert wurde und wird diese Entwicklung etwa noch durch den Niedergang der Programmkinos, die Mode der „Feel Good“-Arthaus Movies, die Privatisierung der Beschäftigung mit Filmgeschichte durch DVDs, das Verschwinden von Retrospektiven im Fernsehen und auf Filmfestivals und die Tendenz unter Filmkritikern im Sinne des Publikums das Wort „Filmkunst“ pejorativ zu gebrauchen. Vgl. beispielsweise Filmkritiken zu neueren Filmen von Ulrich Köhler, Angela Schanelec oder auch Terrence Malick.
- ↑ Vgl. hierzu https://martincompart.wordpress.com/2012/07/18/stammtischgegrole-hurra-doris-j-heinze-ist-wieder-da/
- ↑ Entdeckt wurde der retrorealistische Canyon 2010 von
Robert Bramkamp. „Abschied vom Retrorealismus“, Grußvortrag auf dem 6.
Bundeskongress. Grenzüberschreitungen. Neue europäische Netzwerke,
digitale Vertriebswege und intermediale Communities 19. – 21. November
2010 Hamburg Dokumentation Bundeskongress, Seite 7–15 /
URL: http://www.kommunale-kinos.de/dokumente/dokumentation_buko2010.pdf - ↑ „Dazu den Satan Zwingen“ steht nicht alleine dar. Durchaus aus vergleichbaren Motiven und mit vergleichbaren Ergebnissen forschen etwa Filme von Max Linz („ich will mich nicht künstlich aufregen“, 2014) oder Julian Radlmaier („Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“, 2017). Erinnert werden sollte in diesem Zusammenhang auch noch an die kritischen Essayfilme zum Thema von Dominik Graf: „Es werde Stadt! 50 Jahre Grimme-Preis in Marl“ (2013/14), „Verfluchte Liebe Deutscher Film“ (2014–2016) und „Offene Wunde Deutscher Film“ (2016/17).
- ↑ Vgl. den Eintrag „Retro-Realismus“ im WIKI Innovative Filme Machen
- ↑ Die Sterne: Das Weltall ist zu weit (V2 Records, 2004)