Erzähl(t)raum Internet
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Digitale Kultur
Wir leben in einer Digitalen Kultur, im Sinne einer „Kultur der Digitalität“ wie sie Felix Stadler in seinem gleichnamigen Buch vorstellt.[1], die alles umfasst, schluckt, verwertet und wieder ausspuckt. Es ist eine Kultur, in der Katzen zu Fetischen[2] werden und Mädchen zu Make-up-Expertinnen, die dann mehr verdienen als ihre Eltern. Diese Digitale Kultur ist im ständigen Wandel und niemand kann sagen wie sie unser Leben unsere Art und Weise zu denken nachhaltig beeinflusst. Aber eines ist jetzt schon sicher: Die Digitale Kultur hat den Kontext des Filmemachens grundlegend verändert.
Heutzutage werden mit Smartphones bereits Kinofilme gedreht. Auch wenn TANGERINE L.A. kein Beweis dafür ist, dass jede/r zum Regiestar werden kann, so ist es dennoch eine Verheißung für die unendlich vielen Erzählerinnen und Erzähler. Die Digitale Kultur zeigt eine nie dagewesene Kakophonie der Stimmen, für jedermann (in der westlichen Welt) jederzeit verfügbar. Alle werden zu Autorinnen und Autoren:
Die Revolutionen der Gegenwart, so z.B. die in Ägypten 2011, wurden von unzähligen Kameras begleitet und dokumentiert. Die Bilder der Smartphones ersetzen heute inzwischen auch die offizielle Kriegsberichterstattung. Die „Wahrheit“ ist heute multiperspektivisch, transmedial und auch transnational.[3] Multiperspektivität ist ein Narrativ, welches durch das Internet eine ganz neue Bedeutung gewonnen hat.
Die Digitale Kultur verlangt aber nicht nur nach neuen Narrativen und neuen Formen, sie schafft auch Fakten. Auch wenn heute aller Orten neue kleine Liebhaberkinos[4] oder Filmfestivals[5] entstehen, die auf eine Renaissance des Kinos hinweisen, machen wir uns nichts vor: Das Verschwinden des Films in und durch die Digitale Kultur zeigt sich in vielen Erscheinungen und Entwicklungen, die zeitgleich verlaufen.
So wurde zum Beispiel die Dokumentation, ein traditionelles Format herkömmlicher Film-und Fernsehkunst nicht nur von der bildenden Kunst, sondern auch vom Theater (Dokumentartheater[6]) gekapert. Klassische Filmemacher werden in den Kunstkanon einsortiert und bekommen große Retrospektiven in Museen (Harun Farocki/Chantal Akerman). Andere noch lebende Film- und/oder Videokünstler wie z.B. Omer Fast sind gleich in die Spähre der bildenden Kunst abgewandert.
Aber nicht nur das: Längst haben andere Kanäle unsere Bildergier übernommen: Wir sind immer online, wir schauen auf kleine Bildschirme, wir spielen, clicken, liken. Und für einige von uns ist das nichts neues, sondern ganz normal. Das sind die Eingeweihten, die Digital Natives. Die Eingeweihten filmen seitdem sie zehn Jahre alt sind, sie können schneiden und gestalten die Digitale Kultur aktiv mit. Sie sind nicht nur die Konsument*innen der Zukunft, sie sind vor allem die Produzent*innen. Und Film - 90Minuten/KINO - ist nur noch ein kleiner Teil ihrer Rezeption des bewegten Bildes. „Godard said film was truth twenty-four times a second. I think Godard was dead wrong. Film is full of lies and the only truth is the ticket price. You know? Who goes to the movies anymore anyway?“[7]
Damit sich ein Kino der Autor*innen neu erfindet (und darauf warten alle), muss es Teil der digitalen Kultur werden, sich seines politischen Erbes bewusst sein und ganz nebenbei neue Formate (er)finden. Mögen die großen Erzählungen vorbei sein (was auch nicht gesichert ist, vielleicht legen sie nur eine Pause ein), so ist es doch notwendig, auf sie Bezug zu nehmen, um Orientierungsmarken für aneignende wie transformierende Reflexion zu erhalten.
Denn trotz des Versprechens anders zu erzählen, fragmentarisch, postdramatisch, episch (im Sinne Brechts), werden diese Möglichkeiten wenig genutzt, sondern eher im Gegenteil – die Einheit der Geschichte(n) erscheinen fast notwendig. Der vielzitierte Gedanke Godards, dass eine Geschichte einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss hat - nur nicht unbedingt in dieser Reihenfolge scheint für die neuen Produzent*innen nebensächlich. Viel mehr entwickeln sich neue Formate, die viel mit dem Mediensubjekt und seiner Welt zu tun haben: Katzenvideos!
Das Kino findet im Internet statt
Der Erzähl(t)raum Internet von „allen für alle“ - und die „Filmchen“ der USER haben den Mainstreamfilm durch ihre Ästhetik, ihre Inhalte bereits mehr beeinflusst als es den meisten lieb ist. Als Gegenreaktion verfallen viele Medienmacher*innen in Nostalgie und produzieren Kitsch und Spektakel, wenn von Politik die Rede sein sollte. Das Internet aber macht alle gleich: Film ist entzaubert und auf seinen Algorithmus reduziert. Diese Entwicklung trifft das Mainstreamkino genauso wie den Underground, das Fernsehen und nicht zuletzt sogar die noch so junge arrogante Medienkunst. Die muss sich nämlich z.B. fragen: Geht das Werk ins Netz oder nicht ins Netz? Ist mein Kunstwerk für ALLE oder doch nur für die Deutsche Bank? Kontext wird wichtiger denn je.
Die „unabhängigen“ (Medien)Autor*innen oder solche, die sich dafür halten, sollten die Entzauberung des „Films“ als Chance begreifen und für die Digitale Kultur produktiv machen. Denn eines ist sicher: Neue Medien verändern die Narrative, das „Prinzip der Autoren“[8] aber bleibt unbestritten modern und ist aktueller denn je. Das „Prinzip der Autoren“ ist ohne die Reflexion der Produktionsbedingungen nicht denkbar. Vgl. Alexander Kluge „ Autorenfilm / Politik der Autoren“[9]
Lässt sich dieses „Prinzip der Autor*innen“ für die Digitale Kultur und für die Zukunft antizipieren? Nach dem Motto: Alle Gewerke sind potentielle Filmautor*innen, Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Schauspieler*in, DOP und Schnitt, Ausstattung, Maske und Kostüm. Alles können und das eine oder andere beherrschen. Es gilt, den Traum der kollektiven Praxis zu verwirklichen und nicht in die Fallen früherer Kollektive zu verfallen. Joy Freeman´s „Tyranny of structurelessness" studieren und los geht’s: Gemeinsam rausgehen, improvisieren, filmen und hochladen!
Was sich utopisch anhört bleibt in der Praxis mühsam wie eh und je. Denn auch wenn wir die Produktionsmittel in der Hand zu halten und neue Formen des Vertriebs entwickeln, unterschiedliche Kanäle bespielen und in unterschiedlicher Form ganz selbstverständlich transmedial arbeiten: Wir kommen aus der Verwertungslogik nicht heraus. Nach wie vor müssen wir die Frage stellen, wie wird Film/KINO/Medienförderung transparent? Wie werden die Mittel verteilt? Wer bestimmt über die Ressourcen?
Und auch was die Inhalte angeht sollten wir nicht in Repräsentationslogiken stecken bleiben. Es reicht nicht aus, neue Rolemodels in schicken Serienformaten zu entwickeln wie das z.B. neuere feministische/queere Webserien versuchen, sondern es geht nach wie vor darum, die Bedingungen der Sichtbarmachung selber zu verändern.
Renaissance der AUTOR*INNENfilmer!
Heutzutage ist ein finanziell erfolgreicher „Regisseur“ vor allem der Handlanger des Fernsehens, der Produktion. Die Vision haben längst die Ökonomen (Produzent*innen und Redakteur*innen) übernommen. Angesichts dieser produktionstechnischen Überregulierung durch Fernsehen und einer an Verwertung orientierten Filmförderung mag es vermessen sein, eine Renaissance eines Autor*innenfilms auszurufen, der noch dazu im Internet stattfindet!
Aber die derzeit interessantesten zeitgenössischen Filmemacher*innen wie z.B. Lav Diaz[10], Apichatpong Weerasethakul, oder die französische Regisseurin Anais Volpe[11] sind sowohl moderne Vertreter*innen eines Weltkinos als auch eines zeitgenössischen Autor*innenkinos, das aber wie Ch. Hochhäusler[12] in einem seiner vielen Essays bemerkt keinem „auteuristischen Geniekult“ mehr huldigt.
Auffällig dabei ist, dass viele dieser Filmemacher*innen sich nicht nur im Kunstkontext bewegen und neben (Kino)Filmen, Installationen oder Videoarbeiten machen. Sie verlagern ihre Arbeiten auch selbstverständlich ins Internet.
Das Film/Projekt „Heis“ von Anais Volpe, wurde von Anfang an crossmedial konzipiert: Es ist ein Film, eine Webserie und eine Installation. Volpe nutzt alle Möglichkeiten des Digitalen und bleibt dennoch in der Tradition eines Autor*innenfilm. „Heis“ wurde unabhängig und ohne Fernsehgelder produziert, hat ein radikal subjektives Anliegen und eine visuelle Sprache, die sowohl innovativ ist als auch seiner Vorbilder bewusst. „Heis“ ist darüber hinaus ein politischer Film und wurde auf dem LA Filmfest mit stürmischer Begeisterung aufgenommen. Volpes selbstverständlicher Umgang mit dem Medium „Bewegtbild“ macht „Heis“ zu einem gelungenem Beispiel dafür, wie das Prinzip der Autor*innen in die Digitale Kultur einschleust werden kann. In spätestens 20 Jahren wird es die traditionelle Film- und Fernsehkultur abgesehen von Liebhaberveranstaltungen nicht mehr geben. Deshalb gilt es schon heute alle Kanäle zu nutzen und auf Zeit zu spielen.
Einzelnachweise
- ↑ „Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität sind die charakteristischen Formen der Kultur der Digitalität, in der sich immer mehr Menschen, auf immer mehr Feldern und mithilfe immer komplexerer Technologien an der Verhandlung von sozialer Bedeutung beteiligen (müssen). Sie reagieren so auf die Herausforderungen einer chaotischen, überbordenden Informationssphäre und tragen zu deren weiterer Ausbreitung bei. Dies bringt alte kulturelle Ordnungen zum Einsturz und Neue sind bereits deutlich auszumachen. Felix Stalder beleuchtet die historischen Wurzeln wie auch die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung. Die Zukunft, so sein Fazit, ist offen. Unser Handeln bestimmt, ob wir in einer postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in einer Kultur der Commons und der Partizipation leben werden.“ Kultur der Digitalität, Felix Stadler, Edition Suhrkamp, 2016 http://felix.openflows.com
- ↑ http://brendalien.de/coc.html
- ↑ VIDEOGRAMME EINER REVOLUTION Einführung im Arsenal Kino, 2.3.2014 von Christine Lang http://www.kino-glaz.de/archives/654
- ↑ https://wolfberlin.org
- ↑ https://www.withoutabox.com
- ↑ https://de.wikipedia.org/wiki/Rimini_Protokoll
- ↑ Omer Fast, in „Reden ist nicht immer eine Lösung“, 2016, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau.
- ↑ Ich verwende hier die tradierte Form eines von Alexander Kluges geprägten Begriffes. Nichts desto trotz möchte ich darauf hinweisen, dass die Autor*innenfilmbewegung keineswegs auschließlich männlich war. Es gab in den 60er Jahren in ganz Europa auch einen Aufbruch der Autorinnen. „Die Nouvelle Vague, der italienische Autorenfilm, das Free Cinema, der Neue Deutsche Film, die tschechoslowakische Neue Welle, das Aufbruchskino in Skandinavien, in Polen, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn, sowie das «Tauwetter»-Kino der Sowjetunion werden zumeist mit ihren männlichen Vertretern assoziiert. Weit weniger präsent ist die Tatsache, dass sich damals auch junge Frauen als Regisseurinnen beweisen konnten. In den jeweiligen nationalen Kinematografien stellt das Werk dieser Regisseurinnen ein singuläres Phänomen dar, in der Gesamtschau stellt sich aber das Bild einer bislang unbeachteten Generation europäischer Filmmacherinnen ein.“ Borjana Gaković, Sabine Schöbel Vgl. auch http://www.aufbruch-der-autorinnen.eu ein Projekt von Dr. Sabine Schöbel und das Heft http://www.aufbruch-der-autorinnen.eu/textekontexte/frauenundfilm.html
- ↑ http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/medienphilosophie/uploads/23/Alexander%20Kluge%20Autorenfilm.html
- ↑ https://mubi.com/notebook/posts/long-story-long-an-introduction-to-lav-diaz-s-free-cinema
- ↑ http://lairnumerique.strikingly.com/blog/anais-volpe-un-talent-de-realisatrice-developpe-sur-le-web
- ↑ http://www.revolver-film.com