Fantasy

Aus IFM
Wechseln zu: Navigation, Suche

Auszug aus "Das Gesetz der B-Genres, das Einst und die Zukunft in The Straw That Broke" von Laurence A. Rickels

Deutsche Übersetzung: Herwig Engelmann

Als die lyrische Dichtung in den Kanon der literarischen Gattungen aufgenommen wurde (Platon hatte sie ursprünglich als nicht mimetisch daraus verwiesen), führte dies zu einem Wildwuchs der Untergattungen und zu einer Remetabolisierung der Genregrenzen. Psychologischer Inhalt begann in der Bewertung der Unterschiede zwischen den einzelnen Genres eine Rolle zu spielen. Friedrich Schillers Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“, in dem der Autor sich allzu deutlich um Rang und Namen neben Goethe mühte, beschreibt vordiagnostisch Untergattungen der lyrischen Dichtung. B-Genres sind die Nachzügler dieses alles umwälzenden Verfahrens, die Identität eines Werkes zu bestimmen. Nicht das identifizieren eines Genres als solches, sondern dessen Wiederverstoffwechslung in der Vermischung mit anderen Genres bürgt von nun an dafür, dass ein Werk lesbar und historisierbar wird. Entlang der Argumentation von Jacques Derrida in „Das Gesetz der Gattung“ (1980) ist diese gerade aufgrund der Bündigkeit ihres Lexikoneintrags dazu bestimmt, ihre Bestimmtheit an den Grenzen aufzulösen und in der Unordnung aufzugehen.

Philip K. Dick stand hier als Sciencefiction-Autor etwas abseits. Er kehrte der Verführungskraft des phantastischen Genres den Rücken und konzentrierte sich ganz auf die Gegenwart anderer Wirklichkeiten, die er von psychotischen Zustandsveränderungen und in Analogie zu dem ableitete, was er an den Ursprüngen der Elektronenrechnung im Zweiten Weltkrieg in geballter Form vorfand. Neben den mit der Raketentechnik und Atomphysik verbundenen raumzeitlichen Entrückungen hatte der Computer aber auch noch die digitale Relation auf Lager, und diese hat Philip K. Dick in seiner Science-Fiction nicht vorhergesehen.

In „On Fairy-Stories“ (1939) behauptete J.R.R. Tolkien, dass die Phantastik zwar eskapistisch, aber letztlich in der christlichen Fantasie von den gesprengten irdischen Ketten begründet sei. Als Tolkien dem Genre seiner Wahl den Namen „Fantasy“ gab, um ihm den Weg aus der Kindheit in die Buchhandlungen zu ebnen (wo es seither auf den Regalen den Platz neben der Science-Fiction besetzt), offenbarte er nichts als die reine Wahrheit über dieses B-Genre: Es spricht unsere zweite Natur als Tagträumer an, was auch Tolkiens Betonung des Christlichen nicht verdecken kann. Kraft dieser Wahrheit erwies sich Fantasy als genaueste Entsprechung der digitalen Relation, welche sämtliche anderen B-Genres in völliger Verkennung der Sachlage allegorisch unter die Trümmer ihrer eigenen, fantastisch verklärten Zukunftsvisionen einordnen. Tolkiens Schluss, die Phantastik könne als Gattung bestehen, weil sie sich auf die eine, wahre Fantasie beziehe, lässt sich heute aktualisieren, indem man an die Stelle der christlichen Erlösung die digitale Relation setzt.

Die nächste Generation der Science-Fiction, der auch das Werk von J.G. Ballard angehört, ließ sich im Zuge ihrer tastenden Vorwegnahmen des Neuen an der heraufdämmernden Digitalisierung auf eine Vermischung mit dem fantastischen Genre ein. Als Ballard im Gespräch mit Werner Fuchs und Sascha Manczak 2007 bekundete, er habe sich dem Einfluss des „zu amerikanischen“ (ich würde abwandeln: zu kalifornischen) Philip K. Dick bewusst entzogen, nannte er umgekehrt Cyril Kornbluth und Robert Sheckley als seine damaligen Geistesverwandten: Sciencefiction-Autoren, deren Szenen und Projektionen der Zukunft weiterhin nahtlos an den Kalten Krieg anschlossen, wenngleich rekonfiguriert rund um den Atavismus einer Rückkehr feudaler Herrschaft nach dem Vorbild der Fantasy. Demgegenüber durchdrang Philip K. Dick den Kalten Krieg und sah bis auf den Grund der geschichtlichen Traumata des Zweiten Weltkriegs. Die jüngste Vergangenheit verbarg sich bei ihm hinter den politischen Gegensätzen der Nachkriegsjahre. Am Ende geht, wie Ballard einräumt, der Preis für den gewichtigsten Einfluss an den Surrealismus in der bildenden Kunst. Doch die surrealistische Kunst ist historisch, nicht zeitlos. Ihr verspätetes Eingehen in das Werk von Ballard wird abgeschwächt durch die Vorahnungen der digitalen Relation, und was sie bedeutet, ist eigentlich Fantasy.

Ballards Traum GmbH (1979) handelt von einem Übergangsreich zwischen Leben und Tod, entstanden durch die Kollision eines Flugzeugs mit dem Medium Film. Eine Perversion, die Herbert Marcuse in Triebstruktur und Gesellschaft als utopisch diagnostizierte, lässt die Hauptfigur nach ihrem Tod bei einem Flugzeugabsturz mit der gesamten Schöpfung verschmelzen und deren Stadien durchlaufen. Utopische Fantasie kündigt sich im Sprießen einer Flora und Fauna an, wie man sie aus botanischen Gärten, Zoos und Aquarien kennt. Sie überwuchert und übervölkert das Städtchen Shepperton, die Heimat von Ballard, einigen Filmstudios und den Angestellten des nahe gelegenen Flughafens. Dass die exotischen Wildtiere sich den perplexen Bewohnern zahm wie Haustiere nähern, erinnert an eine Introjektion utopischer Phantastik in der Science-Fiction von Philip K. Dick, wonach die androide Menschlichkeitsprüfung auf ein empathisches beziehungsweise psychopathisches Verhältnis zu Tieren abstellt. Dick regte damit an, die „Sanftmütigen“ (die das Erdreich besitzen werden) in die „Zahmen“ zu übersetzen, mithin unser Menschsein anhand unseres Umgangs mit den Tieren (oder totemischen Hausgenossen) in unserer unmittelbaren Nähe zu identifizieren.

Die Traum GmbH hat ein Vorbild, auch wenn dessen Autor vielleicht nie davon erfuhr: Charles Williams‘ Fantasy-Roman All Hallows Eve (1946) verhandelt das Umherwandern der Toten oder Untoten auf Erden im Rahmen eines unerschöpflich christlichen Lexikons. Dass die Toten sich einfühlend miteinander verbinden können, steht hier im Kontrast zur höllischen schwarzen Magie und kündet von der Erlösung. Ans Licht zu treten, ist der nächste Schritt im Widerstreit zwischen Geisterbeschwörung und Christentum. Indem sie den Sog der digitalen Relation unmittelbarer reflektiert, entkoppelt sich Ballards Ausgestaltung der Wunschvorstellung unter den Trümmern zu kurz greifender Vorhersagen von der christlichen Fantasie. Im selben Gespräch, in dem Ballard seine literarischen Vorbilder nannte, bekundete er auch sein Interesse am Cyberpunk.


Weiterführende Links

Laurence A. Rickels über Genre - diskursives potential