Diegetischer Raum

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David Huss

Der unter Filmemachern und Theoretikern sehr erfolgreiche Begriff des diegetischen Raumes wird oft fälschlicherweise Synonym für den filmischen Raum gesetzt. Der filmische Raum ist dabei mehr als ein dekorativer Hintergrund oder die Beschreibung einer Landschaft. Egal, ob sich die räumliche Welt des Films an der unmittelbaren Umwelt der Filmschaffenden orientiert oder ein neuer abstrakter Raum geöffnet wird – ausschlaggebend ist die Relation verschiedener Räume und welche Systeme sich zwischen ihnen und zwischen ihnen und filmexternen Räumen ausbilden. In Kombination mit den unterschiedlichen Projektionsmodi, aus denen man sich in der Bildgestaltung mit Hilfe des Objektivs bedienen kann, lässt sich der filmische Raum (der sichtbare Ausschnitt einer Raumprojektion auf der Leinwand) in einer Differenz zum diegetischen Raum sehen, der das beschreibt, was als kohärente oder "objektive" Topologie des Raumes möglicherweise bei einem aufmerksamen Zuseher entstehen könnte. In »12 Angry Men« (1957) zeigt die Kamera die Figuren zu Beginn aus Augenhöhe einer stehenden Person in weiten Kameraeinstellungen. Im Laufe des Films senkt der Kameramann Boris Kaufman die Kamerahöhe immer weiter ab und begibt sich näher an die Protagonisten. Obwohl sich der diegetische Raum des spezifischen Settings (ein Beratungszimmer) topologoisch weitgehend unverändert bleibt, verändert sich der filmische Raum: Durch die Absenkung der Kamera, nimmt der zentrale Tisch um den die 12 Geschworenen sitzen immer weniger Raum ein, was eine genaue räumliche Verortung der Sitzenden erschwert. Der filmische Raum verengt sich hier, ohne das der diegetische Raum sich verändert hat.[1] Der Begriff der Diegese beschreibt also das Universum des Films – diegetisch ist alles was zu der behaupteten Realität der Erzählwelt zugehörig ist und steht in einem Spannungsverhältnis mit extradiegetischen Elementen (wie z.B. Filmmusik, Titel, aber auch extradiegetische Lichtsetzung). So umfasst die Diegese "all das, was den Film, insoweit er etwas darstellt, betrifft. Diegetisch ist alles, was man als vom Film dargestellt betrachtet und was zur Wirklichkeit, die er in seiner Bedeutung voraussetzt, gehört."[2]

Es ist wichtig anzumerken, dass der sich stark im Gebrauch befindliche Begriff der Diegese dabei nur einer neben anderen grenziehenden Begriffen wie dem Afilmischen (eine unabhängig vom Film existierende Wirklichkeit), dem Profilmischen (die gefilmte "objektive Wirklichkeit"), dem Filmographischen (alle Aspekte der fertigen Projektionskopie), dem Filmophanischen (der "performative" Aspekt des Films: sich während der audiovisuellen Projektion des Films Ereignendes), dem Kreatoriellen (die Hervorbringung des Werks Betreffendes), dem Leinwandlichen (auf der Leinwand während der Projektion Beobachtbares) sowie dem Spektatoriellen (sich subjektiv im Geist des Zuschauers Ereignendes) nur eine von vielen möglichen Abgrenzungen darstellt.[3] Diese Diegese-Alternativbegriffe zeigen an, wie vielfältig sich Grenzziehungen eines "Filmtextes" zu seinem Paratext, außerhalb des weit verbreiteten Diegesebegriffes ausgestalten kann.[4] Wie bei jeder Grenzziehung erfolgt die Abgrenzung der Diegese von extradiegetischen Elementen nicht beliebig oder gar nach phänomenologisch begründeten Ursachen, sondern ist in sich schon Beleg für bestimmte ideologisierte Perspektiven, die gleichzeitig die Möglichkeit anderen Filmemachens ausschließt.

Der phänomenale Erfolg des Diegesebegriffes in den Filmwissenschaften, aber auch unter Filmemachern hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich aus seiner Verwendung eine – für viele Praktiker gerne genutzte – Trennung zwischen diegetischer Welt und Narration herausgebildet hat. Diese Trennung ist aber nicht beliebig trennscharf zu führen, da durch sie die Idee gefördert wird, jede Narration könne vor einen beliebigen Hintergrund platziert werden, was sich nicht zuletzt in den aktuellen Retrotrends manifestiert.[5] Das Herauslösen eines Narrativs aus dem ihn umgebenden Raum geht selten ohne Verluste oder Verzerrungen vonstatten. Jurij Lotman beschreibt eine "besondere modellierende Funktion des künstlerischen Raumes im Text", mit der eine Differenz unterstrichen wird, er sieht den Raum als essentiellen Bestandteil der Figur und nicht zuletzt der konstruierten Welt:

Auf diese Weise wird die Raumstruktur des Textes zum Modell für die Raumstruktur der Welt, und die interne Syntagmatik der Elemente innerhalb des Textes zur Sprache des räumlichen Modellierens.[6]

Lotman betrachtet diese modellierende Funktion räumlicher Begriffe als eines der "grundlegenen Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit" und leitet diese Modellierung, die auch auf nicht-räumliche Begriffe anwendbar ist, von der Raum-Definition des russischen Mathematikers Alexander Danilowitsch Aleksandrovs ab:

Der Raum ist die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u.ä.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen ähnlich sind (Kontinuität, Abstand u.ä.). Betrachtet man dabei eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum, so abstrahiert man von allen Eigenschaften dieser Objekte außer denjenigen, die durch diese in Betracht gezogenen raumähnlichen Relationen definiert werden.[7]

Lotman scheint diese räumlichen Relationen als bipolare Gegensatzpaare zu denken, aber durch die Anzahl an beispielhaften Gegensatzpaaren wird klar, dass der Schritt zu mehrdimensionalen Feldern oder Räumen ein zwingender ist. Wichtig ist dabei, dass Lotman den Raum nicht als einen von der Figur abtrennbaren sieht, sondern gerade in der Verbindung von Raum und Figur die wichtigen Merkmale eines Textes sieht. Weiters ist der relationale Raum, den er mit Aleksandrov beschreibt, keineswegs mit einer newtonschen Raumvorstellung gleichzusetzen. Mit Raum ist hier ausdrücklich nicht der vom Betrachter weitergedachte diegetische, "objektive" Raum gemeint, sondern jener filmische Raum, der sich durch die Art der Präsentation moduliert sieht.

Die Abstraktion des filmischen Raumes von der Zeit kann wie die Abstraktion der Zeit vom filmischen Raum eine Verkürzung darstellen, da beide durch die fragmentarische Natur ihrer Einzelteile aneinandergebunden sind. "Nun hat jede Handlung nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Ausdehnung", wie Pudowkin sagt.[8] Film zeigt keinen kohärenten Raum: Die Fiktion kümmert sich nicht um Raum, denn sie will eine Einheit erschaffen, die sowohl Zuschauer als auch Film an sich bindet. Doch diese scheinbar kohärente Fiktion ist keine Pflicht – Godard bricht mit dem Raum, fragmentiert ihn und arbeitet Gegensätze im Dienste der Analyse heraus (“In films, we are trained by the American way of moviemaking to think we must understand and ‘get’ everything right away. But this is not possible. When you eat a potato, you don’t understand each atom of the potato!”[9]) und erfüllt damit Benjamin's Idee der Kamera als Werkzeug, um der Wirklichkeit etwas abzuringen. Straub und Huillet wiederum filmen eine Einheit von Ton und Bild, Off und On, die niemals "als Szene funktionieren kann" – und in beiden Fällen ist das Ziel keine einfache Fiktion sondern eine gewisse Form von Widersprüchlichkeit, die durch die, von besonderen Fragmentierungslogiken ermöglichten, topologischen Modellen evoziert wird. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diese Möglichkeiten der Widersprüchlichkeit in narrativ fokussierten Filmen häufig der Vorstellung eines kohärenten diegetischen Raums geopfert werden, was nicht zuletzt im Begriff des Continuity Editing seinen Beleg findet.

  1. Üblicherweise geht der Betrachter von konsistenten diegetischen Räumen aus, bis ihm ein Hinweis gegeben wird, der diese Setzung aufhebt.
  2. Etienne Souriau ,»Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«, in: Montage AV 6,2 (1997)[frz. 1951], S. 140
  3. vgl. Frank Kessler, »Von der Filmologie zur Narratologie« in: »montage AV«, »Diegese« 16/2/2007, S. 2 (http://www.montage-av.de/a_2007_2_16.html)
  4. Die Bezeichnung "Filmtext" bezieht sich auf die Tradition des Strukturalismus, den zu untersuchenden Gegenstand als "Text" zu bezeichnen. Paratext meint in diesem Zusammenhang Textexterna, wie zum Beispiel die Gestaltung eines Buchumschlages oder aber auch Trailer, Filmplakate, Rezensionen usw.
  5. Jameson leitet diesen für die postmoderne Theorie aus dem Mangel an Historizität ab, der sich auch durch die Priorisierung der räumlichen Dimension über die zeitliche Dimension äußert. vgl. Fredric Jameson, »Postmoderne: Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe [Hg.], »Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels«, Reinbek: Rowohlt, 1986, S. 8
  6. Jurij M. Lotman, »Die Struktur des künstlerischen Textes«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 328
  7. A. D. Aleksandrov, »Abstraktnye prosransva«, in: »Matematika, ee soderzhanie, metody i znachenie«, Bd. 3, M. 1956, S. 151
  8. Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin, »Filmtechnik. Filmmanuskript und Filmregie.«, Zürich (1961), Verlag der Arche
  9. The Christian Science Monitor, August 3, 1994